Medizin-Geschichten

Die Heilpflanze des Monats September 2013
Kurioses, Bizarres, Interessantes

Folge 17: Wilde Möhre (Daucus carota)

Im Hochsommer blüht sie überall an Wegrändern, auf Schuttplätzen oder mageren Rasen: die Wilde Möhre. Möhre oder Mohrrübe – dieser eigenartige Name geht auf eine Besonderheit zurück, nämlich auf eine spezielle dunkelrote, lila oder sogar schwarze Blüte inmitten der zierlichen weißen Dolde. Weil sie oft schwarz ist, wurde sie „Mohrenblüte“ genannt – übrigens ist das die einzige schwarze Blüte Europas. Diese zentrale Mohrenblüte soll offenbar die Insekten noch mal extra anlocken.

„Mohrenblüte“: In der Mitte der weißen Dolde der Wilden Möhre ist eine einzige große dunkle Blüte, auch Scheininsekt genannt. Die Wilde Möhre ist eine alte Heilpflanze. Sie wurde früher als Diuretikum sowie gegen Wurmbefall oder Juckreiz eingesetzt.

Die weißen Blütendolden der Wilden Möhre sind so zart und filigran, dass die Pflanze im Englischen auch „„Queen Ann’s Lace“ genannt wird: die Spitze von Queen Ann. Der Name „Vogelnestchen“, den es auch im Englischen gibt: „Bird’s Nest“, bezieht sich auf die abgeblühten Blütenstände, die sich einrollen und dann wie Vogelnester aussehen. Und was bedeutet der botanische, halb lateinische, halb griechische Ausdruck Daucus carota? Ganz einfach: orange orange.

Dabei ist die Wurzel der Wilden Möhre nicht dick und orange wie die der Gemüsemöhre Daucus carota sativa, sondern sie ist dünn und weiß, aber auch essbar. Es gibt viele wilde Karotten-Arten in Europa und Asien. Die Wurzeln können weiß, gelb oder auch purpurfarben sein.

Wie aus der Wilde Möhre die Speisekarotte mit der typischen fleischigen orangen Wurzel entstanden ist, dazu gibt es viele Theorien. Stecken bewusste Kreuzungen dahinter, oder war das Zufall? Wann und wo ist sie entstanden? So soll die Gemüsemöhre in den 1500er Jahren in den Niederlanden gezüchtet worden sein – und sich Land und Königshaus zu ihren Ehren mit der Farbe orange geschmückt haben. Vielleicht. Doch die ältesten Abbildungen von Möhren mit oranger Wurzel sind viel älter. Sie sind im Juliana Anicia Codex des ältesten Manuskripts von Dioskurides zu sehen, und der stammt aus dem Jahr 512 nach Christus.

Warum die Wilde Möhre hier ausgerechnet die Heilpflanze des Monats September ist, hat einen Grund: In Schottland wird am Sonntag vor Sankt Michael (29. September) der „Carrot Sunday“, der „Karotten-Sonntag“ begangen. Am Nachmittag werden von den Frauen und Mädchen auf den Hebriden Wilde Möhren ausgegraben, wobei bestimmte Rituale eingehalten werden müssen. Jeweils drei Wurzeln werden zusammengebunden und an Sankt Michael an die Männer verschenkt. Die Möhrenwurzel ist ein altes Fruchtbarkeitssymbol.

Die Wilde Möhre war immer schon als Heilpflanze geschätzt. Und das nicht nur bei Menschen: Europäische Stare etwa legen ihre Nester mit frischen Kräutern aus. Unter diesen Kräutern ist eben oft das Kraut der Wilden Möhre. Sie enthält das Steroid B-Sistosterol, das Milben abweist und sie daran hindert, Eier zu legen. Wissenschaftliche Versuche haben ergeben, dass eine Brut in Nestern mit Möhrenkraut viel weniger von Milben und Läusen befallen ist. (Mehr zur Selbstmedikation von Vögeln auf Seite 55 im Kunstwerk „60 gefiederte Fundstücke. Ein ornithologisches Wundertütenkabinett“,
http://www.philosophische-bauern.de/blattern ).

Und schließlich noch eine Kuriosität am Rande. In der EU-Richtlinie über Konfitüren, Gelees und Marmeladen, die in den 1980-Jahren entstanden und 2001 aktualisiert worden ist, sind Möhren als Früchte klassifiziert. Dabei werden in der Karotten-Marmelade, die besonders in Portugal beliebt ist, natürlich die Wurzeln verarbeitet. Doch die europäischen Bürokraten haben aus dem Gemüse Möhre eine Frucht gemacht – wahrscheinlich hat es so besser in die Richtlinie gepasst.

Quellen:
u.a. World Carrot Museum
www.carrotmuseum.co.uk/index.html

Ursula Armstrong | Redaktion | Sperberweg 2 | D-82152 Krailling | Telefon: +49 (0) 163 / 313 21 10 | e-mail: mail@uschi-armstrong.de | www.redaktion-armstrong.de


„Vogelnestchen“: Die abgeblühte Blüte rollt sich ein und bildet einen Samenstand, der an ein Nest erinnert. Auch die Samen wurden in der Heilkunde genutzt. Sie vertreiben Blähungen
Fotos: Armstrong

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